Man stelle sich vor: Eine Flug­gesellschaft fragt den Kunden vor dem Ticketverkauf, ob er wirklich fliegen wolle, denn das belaste die Umwelt. Oder ein Schokoladeproduzent warnt auf seinen Produkten freiwillig davor, dass der viele Zucker die Gesundheit ruinieren könne. Hans-Dietrich Reckhaus hat gerade etwas Ähnliches beschlossen: Ab Anfang 2019 versieht er seine Insektensprays mit der Aufschrift: «Tötet wertvolle Insekten.»

Manche seiner Produkte stattet Reckhaus schon seit längerem mit umfangreichen Informationen über den Wert der Insekten aus, die damit getötet werden. Wer die Sprays, Fliegen- oder Mottenfallen kauft, bekommt ein schlechtes Gewissen und wird indirekt aufgefordert, den Kauf ein nächstes Mal zu überdenken. «Mein Ziel ist tatsächlich, den Markt zurückzudrängen, von dem ich lebe», sagt Reckhaus. Aber warum ist der Mann vom Insektenbekämpfer zum Insektenretter mutiert?

Sein Werdegang hatte lange Zeit keinerlei rebellische Züge. Mit harter Arbeit hatte sein Vater ein Biozid-Unternehmen aufgebaut, sein Sohn sollte es später noch besser machen. Abitur in Bielefeld, ein Sommersemester in Harvard, danach das Wirtschaftsstudium in St. Gallen – nur das Beste hielten die Eltern für gut genug. Reckhaus enttäuschte sie nicht, absolvierte das Studium an der HSG in vier Jahren. Dass er zwischenzeitlich mit Depressionen zu kämpfen hatte, zu Tabletten griff, weil er sich schwertat mit dem Dünkel mancher Mitstudenten und der einseitigen Ausrichtung auf materiellen Gewinn, wusste kaum jemand.

Unerwarteter Erfolg

Die einzige Extravaganz, die sich Reckhaus junior leistete, war, dass er nach Abschluss des Studiums noch eine Doktorarbeit in Angriff nahm, sehr zum Ärger seines Vaters. Der fand, das sei Zeitverschwendung und einen solchen Titel könne man kaufen. Doch Reckhaus erwarb die Doktorwürden in zweieinhalb Jahren. Als er 1992 ins Familienunternehmen eintrat, merkte er, dass die Theorie aus St. Gallen im KMU-Alltag wenig hilfreich war. Als der Vater ihm die Firma mit 20 Angestellten nach zwei Jahren komplett übergab, fand der Juniorchef nur halbwegs den Tritt. Zwar stabilisierte er das Unternehmen, kam morgens als Erster und ging als Letzter, aber an vielen Tagen las er Romane im Büro. Manchmal, wenn er den Trott in Bielefeld gar nicht mehr aushielt, setzte er sich in den Zug nach Zürich, fuhr von dort weiter nach Chur, diskutierte in einem Bergrestaurant mit einfachen Leuten und schrieb an einem Roman.

Der Wunsch, Schriftsteller zu werden statt Insektenvernichter, war es auch, der ihn bewog, mit seiner Frau in die Schweiz zu ziehen. So gründete Reckhaus in Appenzell-Ausserrhoden eine zweite Firma mit dem Hauptziel, sich selber anzustellen und mehr Zeit fürs Schreiben zu gewinnen.

Stattdessen liefen die Geschäfte plötzlich rund. Reckhaus kam mit dem Einkäufer eines der grossen Schweizer Detailhändlers in Kontakt, wurde mit drei Vertretern von globalen Konzernen zu einer Präsentation eingeladen – und bekam überraschend den Zuschlag. Anfänglich für 4 Produkte, später wurden es 75. Bald kam ein zweiter Grosskunde dazu, und die Firma wuchs auf 60 Mitarbeiter, 10 davon in der Schweiz, 25 Millionen Euro Umsatz insgesamt. Reckhaus verkaufte dabei nicht nur Chemie, sondern entwickelte giftfreie ökologische Alternativen, darunter Motten- und Fliegenfallen.

«Dein Produkt ist schlecht»

Bis 2012 ging es kontinuierlich aufwärts. Dann wandte er sich an die Konzeptkünstler Frank und Patrik Riklin in der Hoffnung, sie würden seine neu patentierte ökologische Fliegenfalle breit bekannt machen. Die Künstler antworteten ihm lapidar: «Dein Produkt ist schlecht – es tötet Fliegen.» Und weiter: «Wie viel Wert hat eine Fliege für dich als Insektenbekämpfer?» Diese Frage, sagt Reckhaus, habe ihn «im Mark getroffen». Der Vorschlag der Riklins, er solle sein Geschäftsmodell ändern und zum Insektenretter werden, schien absurd, weil er die Firma und 60 Arbeitsplätze bedrohte. Aber nach zwei schlaf­losen Nächten willigte er ein, zumindest mit einer Kunstaktion den Insekten symbolisch etwas zurückzugeben.

Die Aktion «Fliegen retten in Deppendorf» sorgte für einiges Aufsehen, nicht nur im Nachbardorf des Firmensitzes, sondern dank der Riklin-Brüder auch international. 902 lebendig gefangene Fliegen brachten die Gäste zum Dorffest mit. Eine von ihnen wurde zur Gewinnerin gekürt, auf den Namen Erika getauft, mit dem Flugzeug von Paderborn nach München geflogen und von dort per Taxi ins Schlosshotel Elmau chauffiert. Das ambivalente Verhältnis zwischen Mensch und Insekt sollte durch diese komische Überhöhung der Fliege Erika ins Bewusstsein der Leute gebracht werden.

Der Schuss ging nach hinten los. Die Eltern von Hans-Dietrich Reckhaus buchten vor Schreck die erste Kreuzfahrt ihres Lebens, so peinlich war ihnen die Sache. Drei der vier Grosskunden, mit denen der Unternehmer 80 Prozent seines Umsatzes machte, erklärten ihn für wahnsinnig. Die Angestellten fanden, die Viertelmillion wäre besser in Löhne oder Infrastruktur investiert worden.

«Ich will kein Aktivist sein, sondern die Branche als Akteur transformieren.»Hans-Dietrich Reckhaus
Firmeninhaber Reckhaus & Co.

 

Doch Hans-Dietrich Reckhaus war es ernst mit der Sache, ernster, als er zunächst selber begriffen hatte. Der damals 46-Jährige folgte fortan konsequent dem Grundsatz «Reduzieren – Ökologisieren – Kompensieren», forcierte Produkte ohne chemische Inhaltsstoffe und lancierte unter dem Label «Insect Respect» ein Kompensationszertifikat: Wer Produkte seiner neuen Marke Dr. Reckhaus kaufte, ermöglichte damit den Anbau neuer Grünflächen, die Insekten als Lebensraum dienen. Eine erste solche Ausgleichsfläche entstand auf dem 200 Quadratmeter grossen Dach des Hauptsitzes. Diese Öko-Abgabe verteuert die Produkte um fünf bis zehn Prozent.

Reckhaus vertiefte sich immer mehr in die Materie und schrieb zwei Bücher zur Bedeutung der Insekten. Ohne Insekten, so eine seiner Erkenntnisse, überlebt der Mensch nur wenige Monate, 75 Prozent der Kulturpflanzen würden nicht mehr bestäubt, 90 Prozent der Süsswasserfische würden aussterben, ebenso die meisten Vogelarten. Und der Insektenbestand ist stark rückläufig: 40 Prozent der 30’000 heimischen Insektenarten sind in ihrem Bestand gefährdet. Dies wegen der industrialisierten Landwirtschaft und der Versiegelung von fruchtbarem Boden, der in der Schweiz täglich die Fläche von 10 Fussballfeldern zum Opfer fällt. «Obwohl sie für unser Ökosystem so wichtig sind, haben Insekten keine Lobby», stellte Reckhaus fest. Und so wurde er zu einem ihrer grössten Fürsprecher.

Kritisiert wird er noch immer, weil er zwei Drittel seines Umsatzes auch heute noch mit Insektiziden macht. Am liebsten würde er den «kleinen Chemietanker» von heute auf morgen liquidieren. Aber das hätte zur Folge, dass er die Mitarbeiter auf die Strasse stellen müsste. «Ich will kein Aktivist sein, sondern die Branche als Akteur transformieren», sagt Reckhaus, konkreter: «die heutigen Produktionsmitarbeiter mittelfristig zu Landschaftsgärtnern umschulen». Bei zwei ersten Mitarbeitern steht eine solche Umschulung nun bevor, weil Reckhaus im Auftrag von 20 Unternehmen insektenfreundliche Flächen anbauen kann.

Ökonomisch grenzwertig

Ökonomisch betrachtet sei sein Engagement grenzwertig, sagt der Unternehmer. Denn er verbringe seit sechs Jahren die Hälfte seiner Zeit mit Dingen, die sich nicht rechnen. Das habe die Firmenrendite geschmälert und sein Einkommen auf ein Fünftel reduziert. Doch allmählich spürt der 52-Jährige Rückenwind. Wurde er zu Beginn in seiner Branche wie ein Aussätziger behandelt, erhält er nun fast schon im Monatstakt Auszeichnungen für sein Engagement, zuletzt Ende Oktober eine des Europäischen Chemieverbands. Für sein Gütesiegel Insect Respect konnte er mit der Drogeriemarkt-Kette dm einen ersten Grosskunden gewinnen, vor kurzem ist auch Aldi Süd aufgesprungen.

Hans-Dietrich Reckhaus hat als Insektenretter einen Ehrgeiz entwickelt, der ihm als Insektizidhersteller fremd war. Seine Produkte der Linie Insect Respect, die heute keine fünf Prozent zum Umsatz beisteuern, will er «richtig gross machen» und dereinst mit ihnen auch den US-Markt erobern. Zunächst steht aber die Schweiz im Fokus. Am Donnerstag veranstaltet Reckhaus in Aarau den ersten Tag der Insekten. Gemeinsam mit Hans Herren, Träger des Alternativen Nobelpreises, Bertrand Piccard und weiteren Mitstreitern will er dort einen Akzent setzen gegen das Insektensterben. Und einmal mehr vor den eigenen Produkten warnen.

(Redaktion Tamedia)